Schwule Jugendliche begehen vier Mal häufiger Selbstmord als andere Jugendliche. Der Amerikaner Luis Fernanando Midence hat dieses Problem in einem Kurzfilm aufgegriffen.
Schwul, gemobbt, Selbstmord. Das ist die Kette von Worten, die immer wieder auftaucht, wenn sich Schüler ihr Leben nehmen. Erst vor einigen Wochen erschütterte der Fall des 13-jährigen Asher Brown aus Texas die Öffentlichkeit. Und nur ein Jahr zuvor wurden gleich drei amerikanische Schüler – Eric, Carl und Jaheen- innerhalb eines Monats von ihren Klassenkameraden in den Selbstmord getrieben.
Sie alle mussten an der Schule Beschimpfungen als „Schwuchtel“ und „Homo“ hinnehmen. Der Kurzfilm „Uncertain“ von Luis Fernando Midence greift dieses Thema auf. Im Interview spricht er über seine Motivation für den Film, Nachahmungseffekte und die Gefahr, den Selbstmord zu romantisieren.
Luis, wie hast du von den Selbstmorden von Eric, Carl und Jaheen erfahren?
Ich habe über den Selbstmord von Eric einem Blog gelesen. Kurze Zeit später fingen die Mainstream-Medien in den USA an, darüber zu berichten. Und dann nahmen sich die beiden anderen Jugendlichen auch ihr Leben. Mobbing und Jugendselbstmorde standen plötzlich im Fokus der Medien.
Also von diesem ersten Fall gehört hast, was waren da deine Gedanken?
Eric war 17 Jahre alt und wollte gerade seine Highschool abschließen. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass einer seiner mobbenden Mitschüler meinte: „Wenn du dich erschießt, würde dich keiner vermissen.“ Er ging dann nach Hause, nahm sich das Gewehr seines Vaters und erschoss sich. Ich war einfach nur davon erschüttert. Wie viel muss er gelitten haben? Wie sehr muss er sich gehasst haben? Wie wenig muss er sich selbst verstanden haben, dass seine einzige Option war, sein Leben zu beenden? Das war es, was mir in den Kopf kam: Wie weit war er in dieser Illusion, dass der Tod die einzige Lösung sein kann?
Wie kam es dann zu deinem Kurzfilm?
Nach dem dritten Selbstmord, vielleicht eine Woche später, hörte man auf, über Suizid zu reden. Aber ich wollte mehr Informationen. Ich wollte wissen, was nun von den Schulen, dem Staat und der Regierung getan wird. Was machen wir mit den Kindern, die in ihren Schulen nicht akzeptiert werden? Was bringen wir unseren Kindern über Toleranz bei? Die Diskussion darüber hörte einfach auf. Also habe ich beschlossen, ein Drehbuch zu schreiben und es zu verfilmen.
Du hast dabei auch mit zwei schwul-lesbischen Hilfsprojekten zusammengearbeitet.
Ja, das war ein sehr enger Kontakt. Ich wollte wirklich die richtige Botschaft rüberbringen. Also hatte ich schon früh mit ihnen gesprochen. Sie schickten mir ihre Studien über Mobbing und Selbstmord, ich ihnen die Entwürfe meines Drehbuchs – um zu erfahren, ob die Sprache angemessen war. Denn es gab auch die Idee, dass dieses Video ein Bildungsfilm werden könnte: Ich wollte es an Schulen zeigen, sodass dann später Lehrer und Schüler darüber reden und Fragen stellen können. Dabei waren die beiden Organisationen sehr hilfreich.
Auf was musstest du am meisten bei deinem Film achten, damit deine Botschaft richtig rüberkommt?
Am Schwierigsten war das Drehbuchschreiben. Die Geschichte begann, mich emotional mitzunehmen. Ich hatte vorher keine Erfahrungen mit diesem Thema, aber ich fühlte mich sehr betroffen. Ich musste mich also distanzieren, um meine Story zu schreiben - eine Story, die interessant anzusehen sein sollte. Wenn du anfängst den Film zu schauen, weißt du nicht, was passiert. Die Absicht war es, die Leute zu verwirren. Aber gleichzeitig wollten wir ihnen Hinweise geben, was dort vor sich geht. Sie sollten am Ende eine große Offenbarung haben.
Es gibt nach der Berichterstattung über Selbstmord immer einen Nachahmer-Effekt. Das zeigt sich auch im Fall von Eric, welchem dann Carl und Jaheen folgten. Hattest du Bedenken, dass dies auch nach deinem Film eintreten könnte?
Ich habe absolut keinen Zweifel, dass die anderen beiden Teenager Carl und Jaheen über den Selbstmord von Eric in den Medien hörten und ihn deshalb begingen. Denn das passierte nicht gleichzeitig sondern mit je einer Woche Verzögerung. Und klar: Wenn man über Selbstmord berichtet, dann bekommen vielleicht einige den Eindruck, dass das eine gute Lösung wäre. Die große Herausforderung dieses Films war es, dass wir Selbstmord nicht romantisieren.
Wie hast du das vermieden?
Im Film sitzt der Junge in einem Auto und kommt dann zu einem Feld. Der Ort sah wunderschön aus. Aber wir wollten es nicht schön aussehen lassen. Deshalb ist der Kontrast in dem Film so hart und sehr unrealistisch. Es ist die Idee, den Selbstmord nicht zu romantisieren und nicht die falsche Botschaft zu senden. So nach dem Motto: Er hat’s versucht, aber ist gescheitert. Also kannst du es auch versuchen und ebenso scheitern. Wir wollten diese Botschaft nicht aussenden. Deshalb haben wir die Information über die drei Organisationen ans Ende gesetzt. Wenn du Fragen hast oder Sorgen, wenn du durch eine harte Zeit gehst, dann kannst du diese Organisationen anrufen und sie werden dir irgendwie helfen.
Du sagst, dass es keine christliche Verbindung in dem Film gibt. Aber du spielst ja selber mit. Und meine erste Assoziation zu deiner Rolle war: Du bist der Tod!
Weißt du, ich habe so viele Reaktionen dazu bekommen. Ursprünglich sollte ich ganz und gar nicht mitspielen. Wir hatten eine Schauspielerin für diese Rolle. Aber sie konnte nicht, weil sie plötzlich Schweinegrippe hatte. Und wir drehten in einer sehr abgelegenen Gegend. Da war niemand, der aushelfen konnte. Und ich kannte die Dialoge. Also sprang ich ein. Aber die Reaktion, die wir dann nach den ersten Vorführungen bekamen, war: Man dachte, ich sei ein Pädophiler. Also nicht ich selbst, sondern der Charakter, den ich spielte.
Was?
Ja, der Charakter war der „bad guy“. Er wollte dem Kind etwas Böses tun. Das Ganze nahm also eine sehr interessante Wendung. Aber es gibt ja die Auflösung am Ende.
Aber was ist mit meiner Interpretation, du seist der Tod, der das Kind mitnehmen will?
Die Rolle ist sehr offen für Interpretationen. Aber ich sehe das so: Der Junge hat viele Pillen genommen. Ich habe mit Medizinern darüber gesprochen, was in einem solchen Fall getan wird. Es gibt verschiedenen Prozeduren. Normalerweise leeren sie den Magen im Krankenhaus. Wenn es sehr schlimm ist und dein Körper sich schon verabschiedet, dann geben sie dir eine Tablette. Dann musst du dich übergeben. Anson (Anm. d. Red.: der Junge im Film) hat die Pille genommen, um alles auszuspucken. Trotzdem muss er dringend behandelt werden. Deshalb ist die Idee des Satzes „Wir müssen gehen“, dass wir zum Krankenhaus müssen. Aber das Kind will nicht. Es weiß nicht, wo es ist und was passiert.
Für Fehlinterpretation könnte auch der Titel des Films „Uncertain“ (zu Deutsch: Ungewiss) sorgen. Bezieht er sich eher auf das Gefühl des Jungen oder darauf, dass du keine bestimmte Antwort auf eine bestimmte Frage geben willst?
Es ist beides. Der Name des Jungen im Film ist Anson. Es ist ein britischer Name und er bedeutet auch „ungewiss“. Es geht also um die emotionale Ungewissheit des Kindes ebenso wie um die Story selber. Man weiß nie, was passiert. Und schließlich war auch die große Frage: Das Kind sagte, es habe die Pillen wegen der Dinge genommen, die die anderen zu ihm gesagt haben. Sie waren gemein zu ihm, in dem sie ihm schwule Namen gaben. Aber dann ist Frage: Wie weißt du mit 11 Jahren, ob du schwul bist oder nicht? Das war auch meine große Frage an die beiden Kinder, die Suizid begangen hatten. Sie waren beide erst 11. Wie kann jemand mit 11 Jahren wissen, was seine wirkliche sexuelle Orientierung ist?
Du sprachst über deinen engen Kontakt zu den beiden Hilfsorganisationen. Hast du dich auch darüber kündig gemacht, was man als 11-jähriger in einer solcher Situation wohl fühlt?
Ich kenne niemanden, der eine solche Situation überstehen musste und Selbstmord begehen wollte, weil er schwul ist. Ich nahm also als Grundlage, was ich dachte, was das Kind fühlen wird. Ich versuchte mich in diese Situation hineinzuversetzen.
Gabe es Erfahrungen aus deinem eigenen Leben, an die du dich dabei erinnern konntest?
Jede Person hat sehr verschiedene Erfahrungen. Meine eigene ist: Ich hatte sehr viel Glück, wenn ich meine Situation mit der von anderen Jugendlichen vergleiche. Ich habe eine unglaublich tolle Familie. Ich habe zwar zunächst etwas mit mir gekämpft. Aber ich wurde nie gehänselt oder körperlich angegriffen. Ich hatte wirklich sehr viel Glück. Es war deshalb eine Herausforderung, mich in das Kind hineinzuversetzen.
Danke für das Interview und viel Erfolg für deine zukünftigen Filmprojekte.
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